Eine Schande für Europa
Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll, also stelle ich die Frage: Warum schweigen wir, warum habe ich so lange geschwiegen? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es Feigheit oder auch nur Bequemlichkeit, denn uns geht es ja gut. Es fehlt uns an nichts Wesentlichem. Wir leben in gut geheizten Häusern oder Wohnungen, können täglich mehrere Mahlzeiten (natürlich auch warme) zu uns nehmen, erhalten, falls sie erforderlich wäre, die nötige medizinische Betreuung und dürfen uns sicher fühlen. Wir wissen vermutlich gar nicht, wie gut es uns geht.
Radio, Fernsehen und Zeitungen bringen von Zeit zu Zeit Berichte und Bilder zu uns in unsere Wohnzimmer – wahrscheinlich aber nicht oft genug – von den Zuständen in den Lagern Moria und später in Kara Tepe (diese beiden Namen stehen hier stellvertretend für alle derartigen, menschenunwürdigen „Lager“, wo immer sie auch sein mögen). Wir können also nicht vorgeben, von nichts zu wissen.
Europa schaut zu und tut nichts oder zu wenig und wir tun auch nichts oder zu wenig. Dabei hätten die Menschen dort jede Hilfe dringend nötig. Die dortige katastrophale Situation sollte uns bekannt sein, auch wenn wir uns den tatsächlichen Alltag nicht vorstellen können, wir, die wir täglich im warmen kuscheligen Bett unseres beheizten Schlafzimmers aufwachen und darüber nachdenken können, was wir, nachdem wir aufgestanden sind und uns im Badezimmer mit warmem Wasser und sauberen Handtüchern gewaschen und abgetrocknet haben, frühstücken werden.
Stellen wir uns vor – versuchen wir es einmal – wir wären Flüchtlinge in einem der Herkunftsländer dieser Menschen oder in irgendeinem Land dieser Welt und wären auf Hilfe angewiesen. Würden wir dann nicht dringend auf eben diese Hilfe hoffen, ja mit ihr rechnen, um uns ein menschenwürdiges Überleben zu ermöglichen?
Das Argument, dass, wenn wir diesen Menschen eine menschliche Behandlung zukommen lassen, sich dies sozusagen „herumsprechen wird“ und dadurch noch mehr Flüchtlinge kommen werden, kommt einem mehr als zynisch vor. Es ist meiner Meinung nach Europas Pflicht, den Menschen, die hilfsbedürftig und auf Hilfe hoffend zu uns gekommen sind, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
(27.12.2020.)